Permanent schreiende Säuglinge können ihre Eltern in die Verzweiflung treiben. Viele Mütter und Väter vermuten Dreimonatskoliken oder ein Kiss-Syndrom hinter dem Weinen und probieren alle möglichen Mittel aus. Doch Hilfe braucht vor allem die Seele.
Von Birgit HerdenSie hatte sich auf diese ersten Monate gefreut, doch dann wurde die Mutterschaft zum Albtraum. Die neugeborene Tochter schrie und schrie, das kleine Gesicht hochrot, alle Muskeln angespannt, der ganze Körper versteift, und ließ sich einfach nicht beruhigen. Kein Stillen oder Wiegen, kein Streicheln oder liebesvolles Zureden half. Das Baby schien in unstillbarem Zorn und Schmerz gefangen zu sein, unerreichbar für die Eltern.
“Ich habe mich wie ein Häufchen Dreck gefühlt”, erinnert sich die Mutter Karin B., die ihren echten Namen nicht veröffentlichen möchte. “Ganz offensichtlich brachte ich die einfachste Sache der Welt nicht zustande – mein Kind glücklich zu machen.” Das unentwegte Gebrüll trieb sie nach einigen Wochen fast in den Wahnsinn. “Wenn nicht schon alle von der Geburt gewusst hätten, hätte ich mein Kind vielleicht zur Babyklappe gebracht, so verzweifelt war ich.”
In ihren dunkelsten Momenten war die vormals fröhliche und erfolgreiche Frau kurz davor, ihr Baby vom Balkon zu werfen. “Auch mein Freund hat mir solche Gedanken gestanden.” Zugleich plagten ständige Selbstvorwürfe die Mutter: Musste ihr Kind nicht spüren, dass sie es nicht lieben konnte, und schrie es vielleicht deshalb so verzweifelt?
Vielleicht hätte es Katrin B. damals schon geholfen, wenn sie gewusst hätte, wie häufig junge Mütter unter ähnlichen Gefühlen leiden: Je nach Definition legen fünf bis 25 Prozent aller deutschen Babys das sogenannte “exzessive Schreien” an den Tag. Die Eltern geraten dadurch meist in einen Teufelskreis. Tipps, wie sich der durchbrechen und das Kind beruhigen lasse, gibt es zwar viele. Doch wie wirksam sind die einzelnen Methoden? Hilft überhaupt irgendetwas?
Diese Fragen hat nun das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Dimdi) untersuchen lassen. Fazit: Am besten kommen psychotherapeutische Ansätze weg. Den meisten anderen untersuchten Therapien stehen die Prüfer mindestens skeptisch gegenüber.
In die Bewertung sind die Ergebnisse von 18 Studien eingeflossen, die zum Teil wiederum mehrere Einzelstudien auswerteten. Die Mehrzahl der Untersuchungen stammt aus den USA und aus Großbritannien. Vier der Studien befassen sich mit der Wirkung pflanzlicher Mittel, mit denen Säuglinge im Krankenhaus behandelt werden, oder mit der Ernährung der Mutter, etwa wenn diese auf Milchprodukte verzichtet.
Für eine Untersuchung in Russland wurden 125 Schreibabys in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine Kindergruppe erhielt Placebos, die andere eine Woche lang viermal täglich eine Emulsion aus Fenchelsamenöl. Am Ende hatte sich in der behandelten Gruppe bei zwei Dritteln das Schreien vollständig gelegt, in der Placebo-Gruppe war es nur ein knappes Viertel.
Doch sehen die Prüfer die Ergebnisse dieser Studien mit großer Vorsicht. So sei unklar, inwieweit die spezielle Krankenhaus-Atmosphäre ein Rolle spielte und ob sich die Resultate auf die Situation zu Hause übertragen lassen. Zudem beruhen die Behandlungsansätze auf der veralteten Vorstellung, bei dem unstillbaren Schreien handele es sich in der Regel um eine sogenannte Dreimonatskolik. Diese Erklärung gilt medizinisch als überholt. “Die Eltern sollten es ruhig erst mit den Hausmitteln versuchen”, sagt Dieter Korczak, ein Autor der Dimdi-Analyse. Beliebt bei Eltern ist auch das blähungslösende Mittel Sab simplex. Zugleich stellt Korczak klar: “Dreimonatskoliken sind sicher nicht der wesentliche Grund für exzessives Schreien.”
Noch skeptischer ist der Mediziner bei der Bewertung chiropraktischer Behandlungen. Chiropraktiker oder Osteopathen versuchen Schreibabys vom sogenannten Kiss-Syndrom zu befreien, eine “Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung”, die nach Meinung mancher Alternativmediziner die Ursache für das Schreien sei. Dass solch eine Störung überhaupt existiert, ist jedoch aus Sicht der evidenzbasierten Medizin noch längst nicht überzeugend bewiesen.
Oft gibt es keine organische Ursache für das Schreien
Auch die Dimdi-Prüfer kritisieren Studien, denen zufolge die Kiss-Therapie wirken soll, als qualitativ mangelhaft. So fehlten zum Beispiel Kontrollgruppen oder die Zahl der untersuchten Fälle war zu klein, um daraus statistisch relevante Schlussfolgerungen abzuleiten. “Oft gab es gar keine Diagnose für das Syndrom”, sagt Korczak. “Ich rate hier zur Vorsicht, denn es gibt keine Behandlung ohne Nebenwirkungen.”
Positiv fiel dagegen die Bewertung der verschiedenen psychotherapeutischen Betreuungsangebote aus. Mehrere Untersuchungen zeigten, dass die Beratung und Begleitung durch Krankenschwestern, Psychologen und Ärzte das Schreien der Kinder und den Stress der Eltern oft schon nach wenigen Tagen deutlich mindern können. In den meisten Fällen findet man keinen organischen Auslöser für das Dauergebrüll. Vielmehr vermuten Psychologen und Kinderärzte heute eine unspezifische “Regulationsstörung” – die Babys können auf Reize und Eindrücke in ihrer Umgebung nicht angemessen reagieren.
Wie es dazu kommen kann, ist noch unklar. In der Diskussion stehen zum Beispiel Stress und Ängste während der Schwangerschaft, die sich auf das Ungeborene auswirken können, oder auch eine schwierige Geburt. Klar ist aber, dass das Dauergebrüll die Beziehung zu den Eltern und die Mutter-Kind-Bindung massiv stören kann. Babys werden von ihren Eltern fortwährend beruhigt oder angeregt, und normalerweise fühlen sich die Eltern durch die Reaktionen ihres Kindes bestärkt, was sie in ihrem Umgang sicherer macht. Ein solcher “Engelskreis” aber entsteht bei Schreibabys oft nicht. Zudem bringen die Eltern häufig auch eigene Unsicherheiten und Ängste mit, die durch die unverständliche Reaktion des Kindes noch verstärkt werden.
Die Mehrzahl der neun ausgewerteten Einzelstudien und Übersichtsarbeiten zur psychotherapeutischen Behandlung stuften die Dimdi-Prüfer als methodisch gut ein. Allerdings bezogen sich die meisten dieser Studien auf Beratungen, die entweder zu Hause oder während eines mehrtägigen Krankenhausaufenthalts stattfanden. Ambulante Beratung, wie sie in Deutschland die Regel ist, wurde nur in fünf amerikanischen Studien untersucht. Sie brachte überwiegend gute Ergebnisse, allerdings gibt es hierbei keinen direkten Vergleich mit der stationären oder häuslichen Betreuung.
Auch wenn Korczak weiteren Forschungsbedarf sieht, lautet sein Fazit: “Ich würde allen Eltern mit Schreibabys raten, möglichst rasch eine Schreiambulanz aufzusuchen, damit die Probleme nicht chronisch werden.” Auch Cornelia Krause-Girth, Psychologin an der Hochschule Darmstadt, rät zu einer frühzeitigen Beratung anstelle der üblichen Durchhalte-Parolen.